Meilenstein und Job-Vernichter
Ein Jahr Mindestlohn: Kreisverdener Unternehmer ziehen Bilanz / Politiker mit gegensätzlichem Fazit
VON NIKLAS GOLITSCHEK
Landkreis Verden. Laut sind die Kritiker gewesen: Er werde Arbeitsplätze kosten und der Wirtschaft in Deutschland schaden. Nun ist der Mindestlohn von 8,50 Euro, mit Ausnahmen, seit einem Jahr Pflicht. Als die Lohnuntergrenze eingeführt wurde, hat unsere Zeitung ein Stimmungsbild im Landkreis Verden eingeholt – jetzt ist Zeit für eine erste Bilanz.
Die Taxibranche gehörte damals zu denen, die besonders auf das neue Gesetz reagieren musste: Um durchschnittlich etwa 24 Prozent stiegen die Preise. Es wurde befürchtet, die Kunden wären nicht mehr bereit, die erhöhten Gebühren zu bezahlen. „Wir haben ein positives Feedback erhalten, sie haben Verständnis gezeigt“, sagt der Verdener Taxi-Unternehmer Hartmut Kahr. Die Zahl der Wochenendkunden sei nur vorübergehend gesunken. Das einzige Manko sei die Arbeitsbegrenzung. „Die Fahrer würden gerne mehr arbeiten“, berichtet Kahr, dürften aber nur acht beziehungsweise zehn Stunden fahren. Glücklich für die Betriebe seien natürlich auch die aktuell niedrigen Kraftstoffpreise.
Unternehmer mussten reagieren
Mit anderen Mitteln haben Kim und Christian Müscher, Betreiber des Cine City in Verden, auf die Lohnuntergrenze reagiert. „Ein Drittel mehr Lohnkosten machen sich bemerkbar, das muss an anderen Stellen eingespart werden“, sagt Kim Müscher. Wie im Vorjahr von Vater Wolfgang Schrick angekündigt, sei dies gelungen, indem die Arbeitszeit optimiert wurde: Werden weniger Gäste erwartet, würde teils weniger Personal eingesetzt, um Zeitstunden zu sparen. Auch durch ein effizienteres Heizsystem sei Geld gespart worden.
Noch bevor der Mindestlohn galt, setzen die Müschers außerdem nur noch auf zwei anstatt auf drei Vorstellungen täglich pro Saal. Das senke den Stromverbrauch, einen der Hauptkostenpunkte. „Die Ticket- oder Süßigkeitenpreise mussten wir nicht erhöhen“, erklärt Müscher. Sie kritisierte aber, dass die Altersgrenze von 18 Jahren gelte. Das biete Anreize, ohne Berufsausbildung zu arbeiten – und eine gelernte Kraft solle mehr verdienen als eine ungelernte.
Auch Hella Schünemann und ihr Mann vom Hof Schünemann in Barme mussten sich auf das Gesetz einstellen. „Der Mindestlohn betrifft die Saisonarbeiter“, sagt sie – der liegt in der Landwirtschaft durch einen Einheitstarif seit diesem Jahr bei acht Euro. Ein Problem: Der Markt gebe nicht immer mehr Ertrag her, Sozialleistungen stiegen ebenfalls. Aber schon in den vergangenen Jahren hätten sie den Helfern teils mehr als den Mindestlohn gezahlt. „Wir geben auch einen Bonus für gute Arbeit – als Ansporn“, führt Schünemann aus. Bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitern übernehme der Landwirtschaftsbetrieb zudem den Arbeitnehmeranteil, um mit den nicht sozialversicherungspflichtigen gleichzustellen, die aber (wenn möglich) bevorzugt beschäftigt würden. Sie vermute jedoch, dass sich die kleinen und mittelgroßen Betriebe auf Dauer vom Spargelanbau zurückziehen werden – zu gering sei der Gewinn. Außerdem habe Schünemann aus dem Raum Berlin von Sub-Unternehmen im Ausland gehört, die den Mindestlohn systematisch umgehen.
Wohl auch wegen solcher Gerüchte fordert Dietmar Teubert, Kreisvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der SPD-Arbeitnehmerorganisation (AfA), weiterhin Kontrollen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Er beklagt, dass diese Vorschrift mehrfach gelockert worden sei. Dennoch: „Der Mindestlohn ist ein arbeitsmarktpolitischer Meilenstein.“ AfA-Pressesprecher Heinz Möller ergänzt: „Allein im Landkreis Verden kommt er tausenden Beschäftigten zugute.“ 3,6 Millionen Menschen würden von der Lohnuntergrenze profitieren. Arbeitsplätze würden dadurch nicht gefährdet – die reguläre Beschäftigung werde gestärkt.
Der Verdener Bundestagsabgeordnete Andreas Mattfeldt (CDU) sieht nicht nur Vorteile. Der Mindestlohn habe 160 000 Minijobs vernichtet, die vor allem von Schülern, Studenten und Rentnern genutzt würden – was sich daher nicht in der Arbeitslosenstatistik bemerkbar mache. Zwar sei die Zahl der Erwerbstätigen mit mehr als 43 Millionen so hoch wie nie, das sei aber der guten Konjunktur und wohl nicht der Lohnuntergrenze geschuldet. „Ob die Erwerbstätigenquote ohne Mindestlohn noch höher wäre, wissen wir nicht – es ist aber laut Studien zu vermuten“, sagt Mattfeldt. Zahlreiche Unternehmen, die vorher mehr Lohn gezahlt hätten, würden nun weniger bieten, da nur die 8,50 Euro verpflichtend seien. Er spricht sich zwar für Rahmenbedingungen für die Wirtschaft aus, sagt Mattfeldt, meint aber: „Der Mindestlohn gehört allerdings nicht dazu und stellt einen zu tiefen Eingriff in den Arbeitsmarkt dar.“
aus Verdener Nachrichten vom 09.01.2016